Das Gespräch führte Andin Tegen, Zeit, 2.11.2009

Die afghanische politische Aktivistin Malalai Joya hält Präsident Karsai für diskreditiert. Ebenso wie seinen Rivalen Abdullah, der auf eine Stichwahl verzichtete.

ZEIT ONLINE: Bei der Präsidentenwahl am 20. August waren Hunderttausende Stimmen manipuliert. Nun hat der frühere Außenminister Abdullah Abdullah, der Herausforderer von Präsident Hamid Karsai, seine Teilnahme an der Stichwahl am kommenden Wochenende abgesagt, weil er erneuten Betrug fürchtete. Was hätte sich eigentlich in Afghanistan geändert, wenn Abdullah an die Macht gekommen wäre?

Malalai Joya: Hinter Abdullah stehen die brutalsten Warlords der Nordallianz. Wenn er an die Macht käme, hätten diese Warlords noch mehr zu sagen gehabt, das Land würde brutaler regiert werden als je zuvor. Abdullah hat zudem Verbindungen zum iranischen Regime, was bedeutet, dass Iran Afghanistan stark beeinflussen würde.

ZEIT ONLINE: Hätten denn jetzt überhaupt noch Afghanen an der zweiten Runde der Präsidentenwahl teilgenommen?

Joya: Viele Menschen hatten schon vorher kein Interesse zur Wahl zu gehen, weil sie keinen Unterschied zwischen den beiden Kandidaten sehen. Denn auch Karsai hat Verbindungen zu den Warlords. Die Afghanen wussten, dass ihre Stimmen nicht über das Endergebnis entscheiden würden. Sie haben jedes Vertrauen in die politische Führung verloren.

Malalai Joya (30) ist Afghanistans populärste politische Aktivistin. Vier Mordanschläge hat sie bisher überlebt. In ihrem gerade erschienenen Buch Ich erhebe meine Stimme (Piper-Verlag) schildert sie ihr Leben, von der Zeit der russischen Invasion bis heute. Ihr Engagement für Arme und Frauen, aber auch ihre offene Kritik an den Taliban und ehemaligen Warlords, die Schlüsselfunktionen im Parlament einnahmen, brachte ihr 2005 einen Platz als jüngste Abgeordnete im afghanischen Parlament. Schon zwei Jahre später wurde sie jedoch von der männlichen Mehrheit suspendiert. Heute spricht Malalai Joya nur noch an geheimen Orten, verbreitet News über ihre Internetseite und sammelt Spenden. Für ihre Anstrengungen um Frieden, Menschenrechte und Demokratie wurde sie unter anderem mit dem Woman of Peace Award ausgezeichnet.

ZEIT ONLINE: Sie haben 16 Jahre im Exil gelebt. Seit Ihrer Kindheit kennen Sie das Land nur im Kriegszustand, dennoch haben Sie sich entschlossen zurückzukommen. Warum?

Joya: Seit meiner Geburt leidet dieses Land unter permanenter Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Als gebildete und politisch bewusste Frau habe ich es irgendwann als meine Pflicht angesehen zu helfen, speziell den unterdrückten Frauen.

ONLINE: Worunter leidet die Bevölkerung am meisten?

Joya: Die gesamte Situation ist eine Katastrophe. Die Menschen sind so verunsichert, dass sie ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken, weil sie fürchten, dass sie gekidnappt oder – speziell die Mädchen – vergewaltigt werden. Die Anzahl der Vergewaltigungen steigt gerade immens, ebenso wie die der Entführungen und Morde. Häusliche Gewalt veranlasst immer noch viele Frauen, sich lieber umzubringen, als dem Elend standzuhalten.

ZEIT ONLINE: Seit dem Einmarsch der USA und ihrer Alliierten nach dem 11. September gibt es dennoch mehr Frauenrechte im Land. Sie selbst wurden 2005 zur Abgeordneten gewählt.

Joya: Ich bin nicht durch den Krieg Parlamentsmitglied geworden. Und ich sehe es auch nicht als Vorteil für meine Mission, dass die Amerikaner gekommen sind. Die USA haben Afghanistan im Namen des Krieges gegen den Terror besetzt. Aber tatsächlich haben sie mit der Nordallianz Terroristen an die Macht gebracht, die viel schlimmer sind als die Taliban. Meine Präsenz im Parlament diente nur als Fassade, um Sand in die Augen der Welt zu streuen. Jeder sollte denken, dass Frieden und Demokratie in diesem Land existieren.

ZEIT ONLINE: Wie stehen Sie zum erweiterten Truppeneinsatz durch US-Präsident Barak Obama?

Joya: Die seit acht Jahren andauernde Besatzung hat der Bevölkerung vor allem eines bewiesen: dass die Vereinigten Staat nicht vorhaben, die Taliban loszuwerden. Die Taliban haben kaum einen entscheidenden Rückschlag erfahren, im Gegenteil, sie werden immer stärker, da sie auch noch von Pakistan und Iran unterstützt werden. Die ausländischen Staaten wollen nur ihre politische Macht demonstrieren, aus regionalstrategischen und wirtschaftlichen Gründen Präsenz zeigen. Bisher sind mehr als 8000 Zivilisten von ausländischen Truppen getötet worden. Diese ganze Masse an Militär bedeutet immer mehr Krieg, Morde, Tragödien.

ZEIT ONLINE: Was wäre die Alternative zum Einsatz der ausländischen Streitkräfte?

Joya: Es gibt Alternativen, die viel weniger blutrünstig wären. Der erste Schritt ist es, die ehemaligen Kriegsherren zu entwaffnen und politisch zu entmachten. Ihre Privatmilizen sollten komplett beseitigt werden, und sie sollten bestraft werden für all ihre Kriegsverbrechen aus der Vergangenheit. Zweitens brauchen wir eine weltliche, demokratische und unabhängige Regierung. Solange fundamentalistische Gruppierungen als politische und militärische Kräfte die Macht im Parlament haben, und diese auch noch vom Westen unterstützt werden, wird es keinen Frieden geben. Wirtschaftliche Gerechtigkeit ist ein weiterer Punkt. Afghanistan wurde überflutet von Milliarden Dollar, aber die Bevölkerung leidet nach wie vor unter Hungersnöten. Lokale Industrien sollten aufgebaut werden, Jobs geschaffen und Alternativen zur Opium-Produktion gefunden werden.

ZEIT ONLINE: Das alles haben auch die westlichen Staaten versprochen.

Joya: Es liegt aber in den Händen des Volkes. Demokratie und Freiheit sind kein Blumenstrauß, den man einer Nation einfach so überreichen kann. Es gibt Werte, die nur durch die Anstrengungen des Volkes selbst zurückgewonnen werden können.

ZEIT ONLINE: Würden die Warlords und die Taliban nach einem Abzug der fremden Truppen nicht erst recht wieder die Bevölkerung terrorisieren?

Joya: Es ist schwierig zu sagen, was im Detail geschehen würde. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich die Situation verbessern würde. Die Bevölkerung hätte im Falle eines Abzugs mit zwei großen inländischen Kriegsgegnern zu tun – der Nordallianz und den Taliban. Diese beiden haben kaum Chancen, die Macht wieder an sich zu reißen. Das Volk hasst die Taliban bis aufs Blut. Und trotz Erschöpfung durch den langen Krieg würden die Menschen sie in einer letzten Schlacht, allein durch ihren tiefen Hass, auslöschen. Was die Nordallianz betrifft, ist sie meiner Meinung nach schon so isoliert, dass niemand sich ihr noch anschließen würde. Unser Volk wurde so brutal von ihnen misshandelt, dass es keine Mitläufer mehr gäbe. Ich glaube weniger an die Einschätzungen mancher Leute, dass ein Aufstand der Nordallianz stattfinden würde oder die Taliban sich wieder neu gruppieren und zu alter Stärke zurückfinden würden.

ZEIT ONLINE: Was kritisieren Sie am meisten an der Politik von Präsident Karsai?

Joya: Karsais Hände sind in Blut gewaschen. Er hat berüchtigte Kriminelle unterstützt, Leute, die vor der Truppeninvasion der Amerikaner die Bevölkerung unterdrückt haben und nun im Parlament sitzen. Er brachte sie in hohe Ämter. Jüngst macht er Qaseem Fahim and Karim Khalili zu seinen Vizepräsidenten. Die beiden waren in unzählige Verbrechen und Morde zwischen 1992 und 1996 verwickelt. Kasai ist in den Augen vieler Afghanen ein Verräter, weil er sie, nachdem er ihre Stimmen bekam, enttäuscht hat. Er hält große Reden, aber seine leeren Worte dienen nur dazu, die Welt zu täuschen. Er ist nichts weiter als eine Marionette der USA, deren Regeln er befolgt. Die haben dazu geführt, dass mein Volk und mein Land zerstört wurden.

ZEIT ONLINE: Wie erging es ihnen selbst als Mitglied im Parlament? Zwei Jahre nach Ihrem Amtseintritt wurden Sie suspendiert.

Joya: Das Parlament wird von Männern beherrscht, aber meine Entlassung wurde auch von vielen fundamentalistischen Frauen unterstützt. Die ehemaligen Kriegsherren besitzen im Parlament jede Form von Macht. Sie kontrollieren die Medien genau wie einzelne Journalisten. Wenn jemand von irgendeinem ihrer Verbrechen berichtet, wird er entweder bedroht oder gleich getötet.

ZEIT ONLINE: Wurden Sie direkt von Regierungsmitgliedern bedroht?

Joya: Ja, sehr oft. Abdul Rab Sayyaf, ein fundamentalistischer Kriegsherr im Parlament, hat mich bedroht. Seine Befehlshaber ebenfalls. Sie haben mich unzählige Male beschimpft und im Parlament angegriffen. Aber es gab auch Frauen, die mir mit dem Tod drohten.

ZEIT ONLINE: Wie schläft man nachts, wenn bereits 18 Mordanschläge auf einen verübt wurden?

Joya: Diese Bedrohungen sind Teil meines Lebens geworden. Sie schüchtern mich aber nicht ein, ich sage ja nur die Wahrheit. Tatsächlich schlafe ich nachts aber nur wenig und wechsle meine Unterkunft manchmal täglich, manchmal nur alle zwei Nächte. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt.

ZEIT ONLINE: Sie reisen versteckt unter einer Burka durchs Land. Glauben Sie, dass Sie irgendwann einmal unverkleidet und ohne Personenschützer arbeiten können?

Joya: In naher Zukunft sehe ich nur mehr Krieg, mehr Terror und Gewalt. Aber vielleicht wird irgendwann wirklich das Licht der Demokratie auf Afghanistan fallen. Wenn mein Land ein unabhängiger Staat sein sollte, voller friedliebender, weltoffener und sich zusammengehörig fühlender Menschen.