«Bildung ist der Schlüssel zur Emanzipation»
Über die Lage in #Afghanistan unter den Taliban, die Machtübergabe durch die NATO sowie Widerstand im Untergrund und Exil. Ein Gespräch mit #Malalai#Joya
Aus: Ausgabe vom 29.12.2022, Seite 3 / Schwerpunkt
Sie haben in den vergangenen Jahren immer wieder die Taliban und die Warlords in Afghanistan kritisiert, gleichzeitig aber auch die Präsenz der US-geführten Besatzungstruppen. Wie würden Sie die Lage in Afghanistan in diesem Dezember beschreiben?
Die Lage ist schlimmer als je zuvor. 20 Jahre nachdem die Vereinigten Staaten in mein Land einmarschiert sind und es besetzt haben, sind wir wieder da, wo wir angefangen haben. Wieder einmal sind die Taliban an die Macht gekommen, nachdem Billionen US-Dollar ausgegeben worden waren. Hunderttausende Menschen wurden getötet, Millionen vertrieben. Der größte Verrat der USA und der NATO am afghanischen Volk bestand darin, das Land den Taliban zu überlassen. Die USA haben einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie untrennbar mit ihren Lakaien verbunden sind.
Unser Volk ist der ganzen Brutalität der frauenfeindlichen Taliban ausgesetzt. Es gibt endlos viele Beispiele dafür: Frauen und Mädchen wird der Zugang zu Bildung und Arbeit sowie Teilnahme am sozialen Leben verweigert. Dazu kommen die massenhafte Vertreibung von Afghanen im Land, die Abwanderung von Fachkräften und grassierende Armut, die gezielte Tötung von Aktivistinnen, Hinrichtungen im Schnellverfahren, Zwangsumsiedlungen, die brutale Unterdrückung von Frauendemonstrationen, Folter und das Verschwindenlassen von Journalisten sowie der Völkermord an den Hasara und anderen Ethnien. Vor kurzem wurde das Kaj-Bildungszentrum in Kabul angegriffen. Mehr als 50 Schülerinnen wurden getötet, Hunderte verletzt. Die meisten Opfer sind Mädchen. Dazu kommen Hunderte Studentinnen und Studenten, die brutal ermordet wurden, weil sie lernen wollten.
Es gibt zahllose weitere Tragödien, die dieses grausame Regime zu verantworten hat. Menschenrechtsverletzungen, Armut, Opiumschmuggel und Unsicherheit sind auf dem Vormarsch. Etwa 90 Prozent der Afghanen leben unterhalb der Armutsgrenze, und mehr als die Hälfte leidet Hunger. Aus Verzweiflung haben Eltern sogar ihr Kind verkauft oder eine Niere, um ihre Kinder zu ernähren. Einem Bericht der Washington Post zufolge wurden in den ersten acht Monaten nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban mehr als 120.000 Kinder verkauft. Es häufen sich Berichte von Selbstmorden.
Ich bitte Sie dringend, der Lüge, die Taliban hätten sich verändert, keinen Glauben zu schenken. Die Taliban sind nicht gemäßigt, sanftmütig und menschlich geworden. Sie sind sogar noch brutaler geworden. Solange sie keine Bedrohung für US-Interessen sind, ist das offenbar kein Problem.
Würden Sie also sagen, der Abzug der NATO-Truppen im vergangenen Jahr war ein Fehler, wie viele meinen?
Man muss erkennen, dass die Wiedereroberung der Macht durch die Taliban keine Niederlage für die USA und andere imperialistische Mächte war und ist. Im Rahmen ihres sogenannten Friedensabkommens gewährten die USA und das Marionettenregime von Aschraf Ghani mit Unterstützung von Hamid Karsai den Fundamentalisten Amnestie und ermöglichten letztlich ihre Rückkehr an die Macht. Frieden ohne Gerechtigkeit ist bedeutungslos. In Afghanistan wiederholt sich unsere tragische Geschichte.
Bevor die Taliban an die Macht kamen, erkannten die USA diese an. Die Regierung der Vereinigten Staaten entließ Taliban-Führer aus Guantanamo und Bagram; Terroristen und Kriegsverbrecher wurden von der schwarzen Liste der UNO gestrichen, ein Büro in Doha eingerichtet, multilaterale Verhandlungen unter der Aufsicht eines Verräters wie Zalmay Khalilzad aufgenommen und 5.000 Gefangene freigelassen. Alles verlief nach Plan, als die Vereinigten Staaten Macht und militärische Ausrüstung im Wert von 85 Milliarden Dollar übergaben. Der doppelgesichtige »Exit« aus Afghanistan soll politische Interessen der USA schützen und ist der Konkurrenz mit Russland und China geschuldet.
Gleichzeitig haben die USA und europäische Staaten, darunter Deutschland, umgerechnet Milliarden Dollar afghanischer Staatsgelder eingefroren. Sollten diese freigegeben werden, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Bevölkerung zu unterstützen?
mach den switch – PVDA-PTB
Das Geld gehört den Afghaninnen und Afghanen, und wenn wir eine progressive Regierung hätten, könnte man damit die Wirtschaft ankurbeln. Im Fall einer Freigabe der Gelder jetzt würden nur die terroristischen Taliban gestärkt. Gleichzeitig muss man wissen, dass die von den USA und den europäischen Staaten verhängten Kontensperrungen und anderen Sanktionen dem afghanischen Volk schaden, während die Taliban Woche für Woche 40 Millionen US-Dollar erhalten, um eine »inklusive Regierung« zu bilden.
Der afghanische Ableger der Terrormiliz IS verstärkt seine Angriffe auf Zivilisten, darunter auch ausländische Staatsbürger. Gerade erst hat sich der IS zu einem Anschlag auf ein Hotel in Kabul bekannt, bei dem nach Angaben aus Beijing auch fünf chinesische Staatsbürger verletzt wurden. Mehrere afghanische Soldaten und Polizisten sollen getötet worden sein. Was wissen Sie über den IS und seine Ziele?
Aufstieg und Rückkehr der Taliban an die Macht sowie die ideologischen Brüder dieser Extremisten wie IS, Al-Qaida und Dutzender anderer Terrororganisationen in Afghanistan sind das Ergebnis Jahrzehnte währender ausländischer Interventionen und Korruption, die jede Hoffnung auf ein Leben und eine relativ gute Zukunft in einen schrecklichen Alptraum verwandelt haben.
Taliban und IS sind vom Wesen her gleich, einzig Namen und Farben ihrer Fahnen unterscheiden sich. Sie sind beide amerikanische Projekte. Die USA und andere imperialistische Mächte nutzen den IS und andere terroristische Banden für ihre eigenen politischen Interessen, insbesondere gegen ihre Rivalen Russland und China.
Die Taliban wie die Besatzungstruppen haben über 20 Jahre lang die Zivilbevölkerung Afghanistans angegriffen. Und nun macht das auch der IS. Die USA haben mit den terroristischen Taliban »Tom und Jerry« gespielt, und jetzt spielen sie dasselbe Spiel mit dem IS. Die Menschen in Afghanistan zahlen den Preis und sind die Opfer. Ich will nur daran erinnern, dass vom Flughafen Kabul aus Raketen auf Wohngebiete abgefeuert wurden mit der Maßgabe, den IS zu bekämpfen. Neun unschuldige Afghanen, darunter Frauen und Kinder, wurden dabei getötet. 2017 hatten die USA unter Trump in der Provinz Nangarhar »MOAB« abgeworfen, die »Mutter aller Bomben«, um angeblich den IS zu bekämpfen. Auch dabei waren viele Unschuldige getötet worden. Die von den USA und der NATO begangenen Kriegsverbrechen wird das afghanische Volk niemals vergessen, und unsere Geschichte wird nicht vergeben.
Die Taliban haben ein Hochschulverbot für alle Frauen verhängt. Bewaffnete verwehren Studentinnen den Zugang zu Universitäten. Ungeachtet dessen gehen Frauen immer wieder für ihr Recht auf Bildung und Arbeit auf die Straße. Inwiefern müssen die Taliban eine Ausstrahlung der Proteste in den benachbarten Iran fürchten?
Der Protest und Widerstand der mutigen Frauen Afghanistans, die ihre Stimme gegen diese Terroristen erheben, verdient alle Achtung und Unterstützung. Obwohl sie von allen Seiten unter Druck gesetzt werden, lassen sie sich nicht mundtot machen. In dieser dunklen Zeit unserer Geschichte haben mutige afghanische Frauen die Parole ausgegeben »Brot, Arbeit, Freiheit und Bildung sind meine Rechte«. Das ist eine große Quelle der Hoffnung für künftige wirksame Bewegungen. Eine Quelle der Inspiration ist der Widerstand der mutigen Frauen und Männer im Iran gegen das mörderische Regime unter dem Slogan »Frauen, Leben, Freiheit«. All das hat einen positiven Einfluss auf die junge Generation in Afghanistan. Vor allem auf die Frauen natürlich.
Nach wie vor befinden sich Mitstreiter von Ihnen in Afghanistan, die auf sichere Ausreise und Aufnahme in einem EU-Land hoffen. Wie geht es ihnen? Wer kann ihnen wie helfen? Was kann und muss die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hier tun, die sich ja ausdrücklich eine wertegeleitete und menschenrechtsorientierte Außenpolitik auf die Fahnen geschrieben hat?
Ich hoffe sehr darauf, dass wenigstens denjenigen geholfen wird, das Land zu verlassen, deren Leben in großer Gefahr ist. Nur ein kleiner Prozentsatz der fortschrittlichen Menschen hat das Land bisher verlassen, um zu überleben. Die meisten sind immer noch in Afghanistan. Unter enormen Gefahren leben sie weiterhin im Untergrund, so wie sie es schon tun mussten, als die Taliban erstmals an die Macht kamen. Sie benötigen unsere Solidarität.
In dieser beispiellosen Zeit dürfen die Progressiven nicht schweigen, sie spielen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die Afghanen brauchen mehr denn je die Unterstützung fortschrittlicher Köpfe. Es ist wichtiger denn je, Untergrundschulen, Alphabetisierungs- und Computerkurse so weit wie möglich zu unterstützen. Bildung ist der Schlüssel zur Emanzipation. Ich stehe in regelmäßigem Kontakt mit fortschrittlichen Kolleginnen in Afghanistan und zähle die Tage, bis ich zurückkehren und den Kampf dort mit ihnen fortsetzen kann. Ich glaube fest daran, dass sich ein Volk nur aus eigener Kraft befreien kann.
Im November wurden Sie im Teatro Mario Spina in Castiglion Fiorentino in der Toskana für Ihr Engagement mit dem »Simply Woman International Award« geehrt. Wie wichtig sind solche Möglichkeiten, die Lage in Afghanistan zur Sprache zu bringen, von der man in den NATO-Staaten am liebsten nichts mehr wissen will?
Es ist ein Ausdruck internationaler Solidarität, stellvertretend für das unterdrückte afghanische Volk, insbesondere die leidenden Frauen, derart ausgezeichnet zu werden. Eine solche Ehrung hat mich stets darin bestärkt, meinen Kampf gegen die Verletzung von Menschenrechten, für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit fortzusetzen. Veranstaltungen wie die in Castiglion Fiorentino sind eine wunderbare Gelegenheit, das Bewusstsein für die katastrophale Lage Afghanistans zu schärfen, zumal unser unterdrücktes Volk wieder einmal in Vergessenheit geraten und die internationale Solidarität in dieser Zeit von entscheidender Bedeutung ist.
Ich möchte an alle appellieren: Vergessen Sie die Menschen in Afghanistan nicht, nur weil die USA und andere NATO-Truppen abgezogen sind. Mehr denn je sind fortschrittliche Bewegungen auf der ganzen Welt gefragt, um gemeinsam gegen den internationalen Terrorismus, den Fundamentalismus und Imperialismus zu kämpfen.
Sie wollen mit Ihren Unterstützern in Berlin initiativ werden. Was genau ist geplant, und wie kann man Ihnen helfen?
Die fortschrittlichen afghanischen Aktivistinnen und Aktivisten, die das Land verlassen haben, weil ihr Leben dort in Gefahr war, brauchen politische und moralische, aber auch finanzielle Unterstützung. Das ist entscheidend für unseren Erfolg. Ich möchte, dass wir uns, die wir verstreut in Europa sind, als Stimme für die Stimmlosen in Afghanistan und als Stimme der Progressiven unseres Landes organisieren, so dass wir gemeinsam für dieselbe Sache kämpfen können. Ich arbeite, soweit es geht, mit meinem Komitee in Afghanistan zusammen und versuche, es von hier in Europa aus zu unterstützen.
Kollegen von mir stehen jederzeit für Auskünfte bereit, um genauer zu besprechen, wie die Unterstützung aussehen kann. Um arbeitsfähig zu werden, wären neben Spenden und Computern, auch gebrauchten, ein Büroraum oder ähnliches in Berlin von großer Hilfe. Kontakt gibt es unter der E-Mail help-afghanistan@gmx.de.